Los Sin Techos – Hausbesetzungen im „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“

Lucie Matting

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Venezuela weist den größten Verstädterungsgrad Lateinamerikas auf – mehr als 95% der Bevölkerung konzentrieren sich in Städten. Vor allem die Hauptstadt Caracas ist geprägt von den Folgen der massiven Landflucht – von informellen Siedlungsstrukturen am Stadtrand, den sog. barrios. Neben unwürdigen Lebensumständen sehen sich die dort lebenden Familien der ständigen Gefahr von Erdrutschen an den steilen Berghängen ausgesetzt. Schon fast unglaublich wirkt es, dass dennoch im Stadtzentrum von Caracas viele der Häuser leer stehen.

Aus dieser paradoxen Situation hat sich in den vergangenen Jahren eine dynamische Hausbesetzer-Bewegung entwickelt, die den Themen Besetzung und Enteignung im politischen Prozess zur Konjunktur verholfen hat. In welchem Verhältnis stehen die Los Sin Techos zum staatlichen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“? Was fordern sie? Welche Perspektiven haben sie auf die Veränderung der Stadtpolitik?

1999 wurde in Venezuela die fünfte Republik ausgerufen, in der der amtierende Präsident Hugo Chávez Frías den Bolivarianischen Prozess deklarierte, der seit 2003 offiziell auch mit dem Begriff „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ bezeichnet wird. „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ steht keineswegs für ein bestehendes sozialistisches System. Nichtsdestotrotz ermöglicht die Regierung einen „Aufbau von zwei Seiten“, der bewirken soll, dass nicht allein Institutionen, Ministerien und der Präsident selbst konstituiert Macht ausüben, sondern ebenso die Menschen an der Basis konstituierend Macht ausüben können und den Transformationsprozess im Land mitbestimmen.

Dafür wurden seit 2003 Misiones (Sozialprogramme), die „als neue Strukturen und Institutionen für bestimmte Aufgaben“ entstehen und auf „(Selbst-)Organisierungsprozessen“ beruhen, gegründet. 2006 wurden die Consejos Comunales (Kommunalräte) eingeführt, in denen sich die Basis selbst organisieren kann. Damit wird den Menschen die Möglichkeit gegeben, die zuvor jahrzehntelang prägenden assistenzialistischen, klientelistischen und paternalistischen Prinzipien der Politik abzulösen und kommunale Aufgaben selbstständig und selbstbestimmt in die Hand zu nehmen. Dazu zählen beispielsweise der Ausbau von sozialer und technischer Infrastruktur, insbesondere Schulen, Gemeindezentren sowie auch medizinische Grundversorgung oder Straßenbau. „Sozialismus des 21.Jahrhunderts“ meint damit besonders: partizipative Demokratie und Selbstverwaltung, die nicht für leere politischen Phrasen stehen. Ein Indiz dafür ist, dass sich in nicht einmal sechs Jahren venezuelaweit über 30.000 Kommunalräte registriert haben, die neben unzähligen anderen Basisorganisationen den Bolivarianischen Prozess anführen. Eine dieser Organisationen stellt die Hausbesetzerbewegung der Los Sin Techos im Stadtkern von Caracas dar.

Die Forschung trägt zum Verständnis der völlig unerforschten Bewegung der Los Sin Techos bei und weist mit der aufgedeckten Forschungslücke auf die Notwendigkeit hin, das Thema Hausbesetzung im Zentrum von Caracas vertiefend zu untersuchen und richtet den Fokus damit zur Abwechslung auf den Stadtkern.

Lucie Matting, BA im Fach Kulturwissenschaften mit Schwerpunkten Sozialwissenschaften und Linguistik; Studierende des MA-Studiengangs Soziokulturelle Studien an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder; ehem. DAAD-PROMOS-Stipendiatin für Forschung zur Bachelorarbeit zum Thema: Hausbesetzungen der Los Sin Techos in Caracas: Das Verhältnis einer Neuen Sozialen Bewegung zum „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“; Auslandssemester im Rahmen des ERASMUS-Programm an der Université Vincennes-Saint-Denis, Paris; weitere Auslandsaufenthalte u. a. zur soziokulturellen Arbeit in Caracas, Venezuela mit Interbrigadas e.V.: Workshops in Deutsch und Französisch, Lesezirkel mit Kindern und Jugendlichen und Leitung verschiedener Kultursimulationen; Tutorin am Lehrstuhl für Deskriptive Linguistik und interlinguale Soziolinguistik, Europa-Universität Viadrina.

l.matting@gmx.de