Die Zivilrechtskodifikation des Unabhängigen Mexiko: Rechtsvereinheitlichung in einer nachkolonialen plurikulturellen Gesellschaft

Judith Schacherreiter

Die Zivilrechtskodifikation des Unabhängigen Mexiko (1870, 1884) war einerseits Symbol für die neu errungene politische Unabhängigkeit, verfestigte aber anderseits das europäisch-spanischen Erbe. Sie stand unter dem Einfluss des rechtsphilosophischen und -politischen Gedankenguts der europäischen Kodifikationsprozesse, das durch Aufklärung, Vernunftrecht und Liberalismus geprägt war. Dementsprechend lag das Bestreben in der Verwirklichung einer rationalen und systematischen Ordnung des Privatrechts mit klaren, einfachen, einheitlichen, abstrakten, allgemeinen und für alle Rechtssubjekte und das gesamte Territorium gleichermassen anwendbaren Regelungen. Die Zivilrechtskodifikation war damit neben der liberalen Verfassung Ausdruck und Basis einer modernen Rechtsordnung.

In Europa richtete sich die Privatrechtsvereinheitlichung gegen den durch lokales Gewohnheitsrecht geprägten feudalen Rechtspluralismus. In Mexiko war es der aus der Kolonialzeit überlieferte Rechtspluralismus, dem die Zivilrechtskodifikation gemeinsam mit der liberalen Verfassung eine Absage erteilte. Für die indigene Bevölkerung bedeutete dies mehr Nach- als Vorteile. Das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz, das abstrakte Konzept des ciudadano und des Rechtssubjekts und die Rechtsvereinheitlichung beseitigten den persönlichen und territorialen Rechtspluralismus sowie den Pluralismus der Rechtsquellen. Die indigene Bevölkerung wurde nicht als solche rechtlich repräsentiert, sondern den individualistischen Konzepten des ciudadano und des Rechtssubjekts unterworfen. Damit ging die Beseitigung jeglicher rechtlichen Sonderstellung einher, insb der Sonder- und Schutzbestimmungen für indigenes Gemeinschaftsland, das privatisiert und in die Institution des (individuellen) Eigentums übergeführt wurde. Rechtsvereinheitlichung bedeutete ausserdem das Ende der Anerkennung indigener Regelungswerke, wobei diese schon in der Kolonialzeit nur soweit reichte, als die indigenen usos y costumbres nicht als “barbarisch” galten oder der katholischen Religion widersprachen. Eines der vordringlichsten inhaltlichen Ziele des neuen Privatrechtssystems bestand im Schutz des individuellen Eigentums und seiner freien Zirkulation, wodurch es eine rechtliche Basis für die Verwirklichung eines kapitalistischen Wirtschaftssystems schaffen sollte.

Der damit verbundene Zwang der indigenen Bevölkerung, sich zu assimilieren und in das neue Rechtssystem einzupassen, implizierte die Fortsetzung bzw Reproduktion kolonialer Strukturen, was umso deutlicher wird, wenn man in die rechtliche Analyse den rechtspolitischen Diskurs einbezieht, der Verfassung und Kodifikation in ihrer Entwicklung begleitete und hinsichtlich Rassismen und Gewalt gegenüber der indigenen Bevölkerung und ihrer Kultur jenen Diskursen, die den Kolonialismus rechtfertigten, um nichts nachsteht. Der Beginn des modernen Rechts in Mexiko bedeutete daher auch Erneuerung und Verfestigung kolonialer rechtlichen Strukturen.

Judith Schacherreiter: Rechtswissenschafterin, Univ-Ass. in der Abteilung für Rechtsvergleichung, Internationales Privatrecht und Einheitsrecht (o. Univ.-Prof. Verschraegen); derzeit Forschungsprojekt in Oaxaca und Mexiko Stadt zu Landrechten (gefördert durch ein FWF-Schrödingerstipendium); Lehrveranstaltungen an der Universität Wien, ua zu Critical Legal Studies und internationalem Rechtstransfer; früher Herausgabe und nunmehr Redaktion der Zeitschrift „Juridikum – Zeitschrift für Kritik | Recht | Gesellschaft“; Arbeitsschwerpunkte u.a.: Landrechte und Agrarreformen, vergleichende Rechtsgeschichte des Privateigentums an Land, die commons, Rechtstransfers, Postkoloniale Rechtsvergleichung, Internationales Privatrecht

e-Mail: judith.schacherreiter@univie.ac.at