Verfassungsgerichtlicher Minderheitenschutz in Kolumbien

Anmerkungen zu den Möglichkeiten und Grenzen des gerichtlichen Aktivismus

Alexander P. Springer

Die kolumbianische Verfassung von 1991 enthält einige Artikel, welche den bis dahin unbekannten juristischen Pluralismus einführen und absichern sollten. Der Artikel 246 der Verfassung anerkannte die Rechtsprechung der traditionellen indigenen Autoritäten innerhalb ihres territorialen Wirkungsbereiches, schuf aber gleichzeitig eine enge Barriere: „nur soweit diese nicht der Verfassung und den Gesetzen der Republik widerspricht“. Außerdem steht der Artikel 246 unter einfachgesetzlichem Ausführungsvorbehalt – das entsprechende Gesetz, das die Koordination zwischen der indigenen und der nationalen Rechtsprechung dienen sollte, wurde aber nie erlassen.

In diese Lücke entfaltete das kolumbianische Verfassungsgericht bereits relativ bald eine aktivistische Rechtssprechung. Mit seinen Urteilen, v.a. zu Grundrechtsbeschwerden (acción de tutela), gelang es dem Gericht, eine ganze Reihe von Prinzipien zu entwickeln, die das Zusammenleben der beiden Rechtsordnungen regulierten. So interpretierte das Gericht etwa die Einschränkung eines möglichen Konflikts der indigenen Rechtssprechung mit nationaler Verfassung und Gesetzen restriktiv: Die Autonomie müsse maximal ausgelegt werden und nur solche Einschränkungen seien zulässig, die Interessen höherer Ordnung garantieren, darunter fallen etwa das Recht auf Leben oder das Verbot von Folter oder Sklaverei (Urteil T- 349/96 vom 8. August 1996).

Aufbauend auf diesem Verständnis hat sich das aktivistische Verfassungsgericht in den letzten 20 Jahren zu einem der wichtigsten Akteure und Verbündeten im Kampf um die Anerkennung der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Autonomie der indigenen Bevölkerung entwickelt. Durch seine Urteile hat es spezifisches „case law“ zum Verhältnis zwischen nationalem und indigenem Recht herausgebildet. Spektakuläre und kontroverse Urteile betrafen etwa das Verbot, im Stammesgebiet der U’wa nach Erdöl zu suchen, ein Verbot für protestantische Kirchen, unter den Aruacos zu missionieren, oder das Recht der indigenen Autoritäten, körperliche Strafen gegen Straftäter zu verhängen.

In den Jahren 1992-2011 hat das Verfassungsgericht insgesamt 19.491 Fälle entschieden, davon waren mit 139 nur relativ wenige über indigene Gemeinschaften. Allerdings ist in den letzten Jahren bei einem generellen Rückgang der Anzahl der Entscheidungen ein markanter Anstieg von solchen Fällen zu beobachten, die mit dem Fragen der indigenen Autonomie und Rechtsanwendung zu tun haben (2011 mit 29 ein absoluter Höchststand). Indigene Aktivisten greifen anscheinend zunehmend auf das Gericht zurück, um ihre Anliegen durchzusetzen.

Die Arbeit setzt sich zum Ziel, anhand einiger jüngerer Fälle die Möglichkeiten und Grenzen verfassungsgerichtlicher Intervention aufzuzeigen. Diese liegen nicht nur in den Risiken einer zunehmenden Verrechtlichung sozialer Konflikte (in den Worten des ehemaligen indigenen Senators und Ex-Ombudsmanns von Bogotá, Francisco Rojas Birry: „je mehr Normen es gibt, desto größer sind die Möglichkeiten für die Institutionen, diese zu umgehen oder ignorieren, im Wege der Nichtanwendung der Norm…“). Indigene Aktivisten befürchten auch eine zunehmende Kooptierung und Kolonisierung durch die staatlichen Institutionen, welche eine Fragmentierung und politische Schwächung des indigenen Widerstandes bewirken könnten. Schließlich bestehen auch ernstzunehmende Gefahren in den Grenzen der Effizienz von gerichtlichen Urteilen in einem Land, das weiterhin durch hohe politische Gewalt und ungelöste wirtschaftliche und soziale Konflikte gekennzeichnet ist (dazu Springer 2003).