Vom Positivismus zum staatlich anerkannten Derecho Alternativo. Paradigmenwechsel durch die (venezolanische) Comuna?

Heiner Fechner

Die aktuelle öffentliche Auseinandersetzung mit Venezuela ist auf Präsident Chávez fixiert, und selbst in der Lateinamerika-Forschung ist die Staatsfokussierung hinsichtlich des „proceso bolivariano“ dominant. Eine Analyse der Entstehung und Perspektiven der Consejos Comunales und der neuen Comunas als potentielle Entwicklungsmotoren einer qualitativ neuartigen Demokratisierung ist hingegen nur vereinzelt erfolgt (z.B. durch Azzellini, Partizipation, Arbeiterkontrolle und die Commune, 2010). Die rechtliche Dimension dieser neuen Form kommunaler Selbstverwaltung wird, soweit ersichtlich, international kaum analysiert. Dabei ist die „Neuerfindung der Kommune“ gerade hinsichtlich der Hegemoniekämpfe um Form, Verfahren und Inhalte des Rechts sowie damit verbundene unterschiedliche Demokratisierungskonzepte sehr innovativ. Denn in Abwendung vom kelsenianisch geprägten lateinamerikanischen Rechtspositivismus, so die Hypothese des hier vorgeschlagenen Beitrags, findet in Venezuela eine grundlegende Umorientierung auf ein Recht statt, dessen Form und Inhalt wesentlich durch kommunale, kollektive Organisationen und soziale Bewegungen (mit-) geprägt wird.

Die nicht positiv-rechtlich verfasste Vorgängerstruktur der Consejos Comunales, die eine Vielzahl von Organisationsformen und Aufgaben aufwies, wurde hinsichtlich ihrer juridischen Qualitäten bereits Anfang der 1970er Jahre rechtssoziologisch untersucht (Karst/Rosenn, Law and Development in Latin America: a case book, 1975). Mit der Ley de Consejos Comunales (2004, seit 2009 Ley Orgánica de los Consejos Comunales) erhielten die  gewachsenen Selbstverwaltungsstrukturen der barrios eine positiv-rechtliche Form. Die Ley Orgánica de las Comunas (2010) eröffnet mit den weiteren Leyes del Poder Popular einen rechtlichen Rahmen für den Zusammenschluss der Consejos Comunales und zugleich eine staatliche (rechtliche) Anerkennung der erweiterten Selbstverwaltung in ökonomischer, sozialer, aber nicht zuletzt auch rechtlicher Hinsicht. Diese betrifft nicht nur die Rechtsetzung im kommunalen Bereich, sondern mit der Justicia Comunal auch die Rechtsprechung (inkl. Mediation, Streitschlichtung etc.).

Das Referat will der Frage nachgehen, welche Relevanz diese Entwicklung vor dem Hintergrund der lateinamerikanischen rechtstheoretischen Diskussion des Derecho Alternativo (Wolkmer, de la Torre Rangel, Correas u.a.) besitzt. Das Derecho Alternativo greift auf die französischen Traditionen der Critique du Droit, das italienische Diritto Alternativo sowie im weiteren Sinne auch auf die Frankfurter Schule und NeomarxistInnen wie Lukács, Gramsci, Bloch, Althusser u.a. zurück. Im Zentrum der betont anti-positivistischen Forschungen und Aktivitäten stehen pädagogische und rechtspolitische Ziele, welche sich um eine Verbesserung der Lage der „pobres“ als quasi „revolutionärem Subjekt“ drehen. Demokratisierung durch Aufklärung der Bevölkerung, durch Förderung der eigenständigen Rechtsschöpfung in Kooperativen, Genossenschaften, lokalen Selbstverwaltungsstrukturen und sozialen Bewegungen gehen einher mit dem Kampf um die politische Anerkennung dieses Rechts im Zuge der Diskussion um Rechtspluralismus. Die Auseinandersetzung betrifft dabei sowohl symbolische wie praktische Fragen.

 

Es stellt sich die Frage, ob die Entwicklung der venezolanischen Selbstverwaltung nicht eine konsequente Fortsetzung der Tradition des Derecho Alternativo darstellt und dieser zunächst contrahegemoniale Ansatz hier auf dem Weg ist, hegemonial zu werden. Ist das Verhältnis von lokaler rechtlicher Praxis und staatlicher Anerkennung Ausdruck einer Tendenz post-positivistischen Rechts, in welcher nicht nur der Inhalt, sondern auch die Form des Rechts demokratisiert und „entmystifiziert“ bzw. „entfetischisiert“ wird? Läutet das Recht der Comuna insofern einen Paradigmenwechsel ein, oder ist es letztlich qualitativ nicht von der Anerkennung des Tarifrechts, des Genossenschaftsrechts oder der Vereinsautonomie zu unterscheiden?

Heiner Fechner: Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht an der Universität Bremen bei Prof. Dr. Fischer-Lescano; Promotionsthema: Demokratisierung der Wirtschaft. Zum potentiellen Beitrag des Rechts aus rechtstheoretischer Perspektive am Beispiel der venezolanischen Comuna.

Letzte Veröffentlichungen:

Das Grundrecht auf einen Ausbildungsplatz, Rechtsgutachten für die GEW, 2011

Die bolivarianische Alternative. Soziale Menschenrechte, nuevo constitucionalismo und ein gegenhegemoniales Projekt, Forum Recht 2010, 48-51

Die Bolivarianische Allianz ALBA und die sozialen Bewegungen, KJ 2010, 46-53

e-mail: hfechner@unibremen.de