Aneignungen und Modifikationen des Lebensraums Großsiedlung in Recife/Brasilien
Katharina Kirsch-Soriano da Silva
Die Wohnsiedlungen Maranguape, Marcos Freire, Muribeca und Rio Doce sind Großsiedlungen, die Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre im Rahmen eines sozialen Wohnbauprogramms in peripheren Gebieten der Großstadtregion Recife erbaut wurden. Sie beinhalteten bei ihrer Errichtung jeweils mehrere tausend Wohneinheiten in stark standardisierten Bauten. Durch bauliche Veränderungen versuchten die BewohnerInnen im Laufe der Zeit „auf eigene Faust“ die uniform gestalteten mehrgeschossigen Wohnblöcke an ihre unterschiedlichen Bedürfnisse anzupassen und damit gleichzeitig ihren urbanen Lebensraum in vielfältigen innovativen Prozessen neu zu definieren. Im Wechselspiel zwischen individuellen und kollektiven Handlungsfeldern modifizierte sich die ursprüngliche Bebauungsstruktur zusehends. Das großmaßstäblich vorgegebene architektonische Gerüst wurde durch kleinteilige Interventionen der BewohnerInnen nach und nach adaptiert und weiterentwickelt. Die vorhandenen Gebäude wurden vergrößert und mit zusätzlichen Nutzungen versehen. Neue Gebäude wurden errichtet und die Siedlungsstruktur so zusätzlich nachverdichtet. Die Siedlungsräume wurden stärker individualisiert und auch die Freiräume bieten differenziertere Nutzungsmöglichkeiten und Raumerlebnisse.
Der Beitrag beleuchtet die vielfältigen Aneignungs- und Modifikationsprozesse der Großsiedlungen – ihre Rahmenbedingungen, Einflüsse und Motivationen, sowie die von ihnen ausgehenden Impulse und Potenziale. Er untersucht wie diese zum einen den Logiken der bereits vorhandenen baulichen Strukturen folgen, zum anderen aber auch eigene Dynamiken besitzen, welche den Bestand in kreativer Weise restrukturieren. Er zeigt das Spannungsfeld zwischen „formeller“ und „informeller“ Stadtentwicklung, bei dem die beobachteten Veränderungsprozesse der doppelten Prägung durch die top down implementierte staatlich initiierte Stadtplanung und die bottom up realisierte bauliche Gestaltung der BewohnerInnen unterliegen.
Katharina Kirsch-Soriano da Silva, Dipl.-Ing. Dr.: Studium der Architektur an der TU Wien; Forschungsaufenthalte in Deutschland und Brasilien; Dissertation „Mutationen städtischer Siedlungsstrukturen in Recife/Brasilien“ (publiziert 2010 unter dem Titel „Wohnen im Wandel“); Mitarbeit an der Entwicklung sozialer Wohnbauprojekte im Nordosten Brasiliens; forscht und arbeitet in den Bereichen Stadtentwicklung, Stadterneuerung, Stadtteilarbeit und sozialer Wohnbau; ist derzeit in der Projektkoordination des Pilotprojekts „Grätzeleltern“ bei der Caritas Wien tätig.
Kontakt: katharinakirsch@gmx.at