Workshop 1:
Konfrontationen und Kämpfe um Hegemonie zwischen Rechtssystemen, Rechtskonzepten und Rechtskulturen
Koordination: Ilse Koza, Judith Schacherreiter, Gernot Stimmer
In der modernen okzidentalen Tradition wird Recht als staatliches Recht, kohärentes System und rationale Ordnung gedacht. Diese Vorstellung entspricht typischerweise auch dem hegemonialen Rechtsverständnis in lateinamerikanischen Ländern. Gleichzeitig stellen lateinamerikanische Rechtsentwicklung und -realität dieses Rechtsverständnis vehement in Frage. Fragmentierung von innen (etwa durch indigene Autonomien) und Einflüsse von außen (durch Freihandelsabkommen, Internationale Organisationen, Kreditbedingungen, etc) führen zu Konfrontationen und gegenseitiger Einflussnahme zwischen unterschiedlichen Rechtssystemen, die teilweise auch unterschiedliche Rechtskulturen implizieren. Insbesondere treffen transnationales Recht, nationales Recht und (innerhalb der Nationalstaaten bestehendes) autonomes (indigenes) Recht aufeinander. In diesem Arbeitskreis soll diskutiert werden, wie diese Konfrontationen verlaufen, in welcher Beziehung die unterschiedlichen Rechtssysteme zueinander stehen, wie sie sich gegenseitig beeinflussen, welche Hegemonieansprüche dabei gestellt werden und welche gegenhegemonialen Bewegungen sich entwickeln.
Dass Rechtssysteme und Rechtskulturen sich nicht voneinander abgeschottet entwickeln, sondern zueinander in Beziehung stehen und sich gegenseitig beeinflussen, ist gerade im lateinamerikanischen Kontext kein neues Phänomen. So fanden noch mehr als während der Kolonialzeit nach der Unabhängigkeit mit der Verbreitung des Liberalismus in zahlreichen lateinamerikanischen Ländern intensive „Rechtsimporte“ statt, die – unter Ausschluss und Marginalisierung der indigen Bevölkerung – moderne Staaten und moderne Rechtssysteme nach europäischen Vorbildern errichteten. Heute dominiert transnationales Recht die Einflussnahme auf nationale Rechtsordnungen der Peripherie und Semiperipherie. Zentrale Rechtskonzepte dabei sind bspw property rights, Menschenrechte, Demokratie und die rule of law. Auf der anderen Seite haben sich Gegenbewegungen entwickelt, die sich etwa in lokalen autonomen Regelungssystemen oder auf staatlicher Ebene im nuevo constitucionalismo niederschlugen. Konflikte zwischen den verschiedenen Rechtssystemen und Rechtskulturen, die in diesen Kontexten aufeinandertreffen, beziehen sich sowohl auf die Rechtsformen (etwa verschriftlichtes oder nicht verschriftliches Recht), Rechtsproduktion und Demokratieverständnis, Rechtsanwendung und -durchsetzung sowie konkrete Rechtskonzepte wie zB das Eigentumsrecht inklusive geistiger Eigentumsrechte.
Als ForscherInnen des Zentrums und einer okzidentalen Rechtstradition sind wir bei der Auseinandersetzung mit diesem Themenbereich dazu aufgefordert, uns der Gefahr eines ethno- und logozentrischen Zugangs gegenüber anderen Rechtsordnungen und Rechtsformen bewusst zu sein und diese selbstreflexiv einzubeziehen ohne dabei in einen radikalen Relativismus oder gar Romantizismus (etwa über vorgebliche Natürlichkeit, Reinheit oder Authentizität indigener Rechtsregeln) zu verfallen. Internationale Rechtsinstrumente zwischen dem Zentrum und der Peripherie sollen kritisch analysiert werden. Dies impliziert den Versuch epistemologisch und methodisch postkoloniale Theorien (insbesondere eine Epistemologie des Südens) einzubeziehen, um jene Spannungsfelder sichtbar zu machen, die sich aus der unterschiedlichen Positionierung in einem neoliberal geprägten globalen Wirtschaftssystem ergeben.